Einsamkeit – Niemand spricht darüber und doch kennen sie fast alle 

27.08.2024

27 Minuten Lesedauer

Einsamkeit – Niemand spricht darüber und doch kennen sie fast alle 

Einsamkeit ist ein großes Thema unserer Zeit. Jede und jeder scheint sie zu kennen. Laut einer aktuellen Studie des Bundesministeriums für Bevölkerungsforschung (BIB), fühlt sich jeder dritte Mensch zwischen 18 und 53 Jahren in Deutschland zumindest teilweise einsam. Manchmal ist die Einsamkeit nur von kurzer Dauer, manchmal wird sie länger erlebt. Seltener wird sie zur Lebensbasis, von der aus der Mensch sein tagtägliches Leben betrachtet.

Was ist Einsamkeit?

Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl und wie alle Gefühle schwer zu erklären. Gefühle werden individuell erlebt, „irgendwie“ gespürt. Sie sind nicht leicht zu beschreiben und man nähert sich Ihnen meist durch einen Vergleich. „Ich liebe Dich, wie nur je ein Mensch einen anderen geliebt hat“, „ich hasse ihn wie die Pest“, „ich fühle mich wie im Paradies“. Ist ein Mensch einsam, fühlt er sich abgetrennt, vereinzelt, wie „allein in der Wüste“ oder wie „der einzige Mensch auf Erden“. Häufig sagt der Mensch dann, er sei allein, aber einsam sein und allein sein, sind zwei verschiedene Dinge. Bin ich allein, bin ich nicht mit jemandem physisch zusammen, bin ich einsam, bin ich nicht mit jemandem psychisch zusammen. So ist soziale Isolierung, wie sie mit gesellschaftlichen Randgruppen, mit Migranten, mit Menschen bestimmter politischer Grundhaltung geschieht, ein objektiver Tatbestand, der aber subjektiv durchaus als Einsamkeit gefühlt werden kann.

Ein Erklärungsversuch lautet – Einsamkeit ist für die Psyche, wie Hunger für den Körper. Hunger gilt als Warnsignal. Der Körper weiß dann, dass er Nahrung zu sich nehmen muss, da er sonst Gefahr läuft, zu verhungern. Analog dazu wüsste die Psyche bei Einsamkeitsempfinden, dass sie ein „Du“ finden muss, einen anderen Menschen, um nicht zu verdorren. Das jedoch stimmt so nicht, denn wahrhaft einsame Menschen kommen selten von selbst aus diesem Zustand heraus. Sie können nicht einfach ein „Du“ finden, sie wissen nicht, wie sich einem anderen Menschen nähern können. Zudem macht Einsamkeit scheinbar unsichtbar. „Je älter du wirst, desto weniger Menschen scheinen mit dir Kontakt aufzunehmen“ – so dass Zitat eines 90-jährigen Briten. Hinzu kommt, dass auch das Alter unsichtbar macht. Das Leben findet woanders statt. Ältere und hochaltrige Menschen rutschen zunehmend ins gesellschaftliche „Aus“. Hochaltrige Menschen berichten, dass sie „nur noch Zuschauer des Lebens“ sind . Auch können sie sich oft nicht mehr so präsentieren, wie sie es wollen. So wirken sie vielleicht introvertiert, uninteressiert und mürrisch. Ein sehr schöner kleiner Film aus dem Lebenswert-Magazin verdeutlicht diesen Umstand sehr eindringlich.

Offiziell unterscheidet man drei unterschiedliche Formen der Einsamkeit:

Existentielle Einsamkeit

Sie lässt sich als unerträgliche Leere bezeichnen, als eine tiefe Traurigkeit, eine nicht zu erfüllende Sehnsucht, beispielsweise wenn ein geliebter Mensch verstirbt. Sie trifft das Innere eines Menschen, lässt ihn schutzlos und verzweifelt zurück. Der einsame Mensch bleibt abgetrennt von seinem liebsten, er bleibt vereinzelt zurück.

Diese Form der Einsamkeit ist gravierend, aber meist nicht von sehr langer Dauer. Im Laufe der Zeit lernt der Mensch, sein „leeres“ Umfeld mit neuen Kontakten zu füllen. Der Verlust des geliebten Menschen reißt zwar eine manchmal nicht wieder zu verschließende Lücke, andere soziale Kontakte können aber nachreifen und dem Menschen wieder Halt geben.
Anders ist es, wenn der Mensch hochaltrig ist. Im Laufe seiner Lebensjahre starben viele seiner Freunde und Bekannten. Geliebte Menschen wurden ihm nach und nach genommen und das Gefühl einsam zu sein, wird zum Begleiter der späten Tage. Der hochaltrige Mensch wird mehr und mehr zum Zuschauer des Lebens, nicht mehr zum aktiven Teilhabenden – besonders auch durch die zunehmend schwächeren und geringer werdenden körperlichen Möglichkeiten – und bleibt einsam zurück. Das Gegenteil von „ein – sam“ ist „gemein – sam“ oder, manchmal auch „zwei – sam“. In jedem Fall zielt es auf die Gruppe, die Herde, die Gemeinschaft ab, die im hohen Alter immer kleiner wird.

Ein besonderes Thema ist der Zusammenhang zwischen Armut und Einsamkeit im Alter. Das ist besonders ein weibliches Thema. Menschen, fast immer Frauen, die ihr Leben bis zur Rente aus diversen Gründen – Kindererziehung, schlechte Ausbildung, „Verbot“ des Ehemannes einer eigenständigen Arbeit nachzugehen, und anderes mehr – nicht viel Geld der Rentenbezüge widmen konnten, stehen im Alter häufig mehr oder weniger alleine und häufig einsam dar, da ihre gesellschaftliche Teilhabe nahezu unmöglich wird.

Menschen in Heimen erleben gegebenenfalls diese Form der Einsamkeit intensiv. Gerade in der ersten Zeit, in der Eingewöhnungsphase, kann sie die Menschen völlig lähmen. Die Menschen fürchten sich vor einem langsamen und quälenden Weg, von dem sie erst durch den Tod erlöst werden. Ihnen ist nicht bewusst, dass ein Heim-Leben nicht bedeutet, die Unabhängigkeit, die noch besteht, die Möglichkeiten, die noch wählbar sind und die Lebensfreude, die zurückkehren kann, an der Eingangstür abzugeben. Mit „warum bin ich wieder aufgewacht?“ werden die Augen geöffnet und die grauen, endlos langen Tage zeichnen sich vor dem inneren Auge ab. Fragen wie „was soll mit mir werden?“ „Wie viele Jahre muss ich das ertragen?“ „Warum kann ich nicht sterben?“ zementieren den Weg in die Einsamkeit. Hier ist aufmerksames, empathisches, geschultes Personal gefragt, den Dialog mit den Menschen aufzubauen und diese Kommunikation als Basis einer beginnenden zwischenmenschlichen Beziehung werden zu lassen.

Das Gefühl der Einsamkeit ist auch bei Kindern und Jugendlichen häufig anzutreffen; auch sie kennen den Unterschied zwischen „ein – sam“ und „gemein – sam“. Die Bertelsmann Stiftung befragte im März 2024 2.532 jungen Menschen zwischen 16 und 30 Jahren zum Thema Einsamkeit. 35% fühlen sich moderat einsam, 10% sind stark von diesem Gefühl betroffen.
Seit der Corona-Epidemie und dem Umgang mit den vermeintlichen Bedrohungen, zeigten sich aus bekanntem Grund – Schließung der kindlichen und jugendlichen Umwelt und beobachteter Reaktionen dieser Bevölkerungsgruppe – Kinder und Jugendliche als hochsensible Bevölkerungsgruppe, die bald mit Einsamkeitsgefühlen reagierte. „Einsamkeit ist längst nicht mehr ein Phänomen, das ausschließlich ältere Menschen betrifft. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass auch junge Menschen zunehmend von Einsamkeit betroffen sind und damit eine neue Risikogruppe darstellen. Diese Entwicklung erfordert eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, um Einsamkeit in dieser Altersgruppe effektiv zu bekämpfen“.

Existentielle Einsamkeit äußert sich auch in dem Empfinden, völlig anders als die Umwelt zu empfinden oder zu denken. Das Gefühl, dass niemand mich versteht oder dass ich mich innerlich leer fühle, weil mir der Sinn des Lebens verloren gegangen ist, kann zur Chronifizierung des Einsamkeitsgefühls führen, wenn ich keine neuen Kontakte und positiven Beziehungen finden kann.

Einsamkeit als unerfülltes soziales Bedürfnis

Bedürfnis kommt von „brauchen, nötig haben“. „Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er braucht den Kontakt und den Austausch mit anderen Menschen“. Das stellte Alfred Adler, Sozialpsychologe, schon in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts fest. Moderner drückt es der Arbeitspsychologe Michael Kastner aus „Der Mensch ist ein soziales Tier und hat das Bedürfnis nach Klatsch und Tratsch.“ Der Bibelvers Matthäus 18:20 sagt: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ – will sagen, der Einzelne bedeutet nichts. Der Mensch braucht den anderen Menschen, er braucht ein „Du“. Ist das nicht gegeben, vereinsamt der Mensch. Dabei geht es aber nicht darum, dass jemand da ist, neben dem Menschen ist, sondern dass eine Beziehung entsteht, ein wechselseitiges Verhältnis des einen Menschen mit dem anderen. Die fundamentale Wichtigkeit einer solchen wechselseitigen Beziehung stellte in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts u. a. der englische Kinderpsychiater John Bowlby fest und entwickelte die bis heute gültige psychologische Theorie der Bindung. Sie geht davon aus, dass Menschen ein Bedürfnis nach engen, emotionalen Beziehungen angeboren ist und dass diese unabdingbar für ein psychisch, aber auch physisch gesundes Leben sind.

Menschen in Seniorenheimen, behinderte und chronisch kranke Kinder und Jugendliche, Pflegende Angehörige sind nicht unbedingt gesegnet mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Ältere Menschen werden von (überforderten) Kindern oder Verwandten ins Heim „abgeschoben“, manchmal müssen sie sich, ungewollt aber ihrer gesundheitlichen Situation geschuldet, mit einem Heimplatz als neuen Lebensmittelpunkt, zufriedengeben. Sie sind auf Pflege angewiesen und die kann in der gewohnten häuslichen Umgebung nicht mehr erfolgen. Sie kommen als Neueinzug ins Heim, ängstlich, wie die Umgebung sein wird, wie die Mitbewohner, wie die Pflegenden. Sie wünschen sich Würde und Anstand, Respekt, Zuneigung und eine angenehme Atmosphäre. Sie beginnen ein neues Leben, denn das Heim wird nun ihr Zuhause sein. Für jeden Menschen gilt „my home is my castle“, sie aber müssen ihr home, ihr castle, nun umdeuten. Sie müssen sich in eine Wohngemeinschaft einfügen, müssen sich dem herrschenden System der Abläufe unterordnen – wann werden sie versorgt, wann gibt es Frühstück, Mittagessen, Abendessen, wann werden sie wieder versorgt, „gepflegt“, wann werden sie zu Bett gebracht? Sie haben das Heim als ihr neues Zuhause ausgesucht (wenn sie es denn haben!), müssen aber damit zurechtkommen, dass dieses von vielen fremden Menschen bevölkert ist, die sie im Normalfall niemals in ihrem Haus dulden würden. Sie sind den Pflegenden „ausgeliefert“, die ihren Beruf im Idealfall als Berufung ansehen, im schlechtesten Fall als Job. Sie müssen sich mit Mitbewohnern auseinandersetzen oder zumindest arrangieren, die völlig andere Werte, Manieren, Umgangsformen, als sie selbst haben. Um all diese Herausforderungen gut verarbeiten und bewältigen zu können, benötigen sie Beziehungen.

Körperlich und/oder geistig behinderte Kinder und Jugendliche sind grundsätzlich teilhabeeingeschränkt. Je größer und einschränkender die Behinderung oder die chronische Krankheit ist, desto erschwerter ist die gesellschaftliche Teilhabe der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Teilhabe aber geschieht in Gesellschaft. Wenig Teilhabe bedeutet daher ein großes Risiko, einsam zu werden, bzw. zu sein.

Die Bundesfamilienministerin Lisa Paus bemerkte, dass „Vereinsamung so schädlich [sei] wie Rauchen, Fettleibigkeit oder Luftverschmutzung.“ Denn langsam wird die Bedeutung dieses Gefühls für die Gesundheit deutlich; zudem wird der Zusammenhang zwischen Einsamkeit, innerem Rückzug und radikalen politischen Einstellungen zunehmend deutlich. Auch glauben sie eher als nicht einsame Menschen an Verschwörungstheorien.

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Einsamkeit als unerfüllte soziale Erwartung

Kann der Mensch keine oder wenige qualitativ zufriedenstellende Beziehungen aufbauen, rutscht er in die Einsamkeit.
Vielen Heimbewohnern wird nachgesagt, dass sie nörgelig, quengelig, hilferesistent und dickköpfig sind. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu verstehen, dass Einsamkeitsempfindungen den Cortisolspiegel im Blut ansteigen lässt, was zu erhöhtem Stresserleben führt. Ist der Mensch ständigem Stress ausgeliefert, verändert sich seine Wahrnehmung der Welt. Die Welt wird als feindlich angesehen, der es sinnvollerweise auszuweichen gilt. Der ständig in der Psyche herrschende Alarmzustand führt zu Bluthochdruck, Emotionsregulationsstörungen, Schlafproblemen. Menschen, die nicht ausreichend schlafen, können sich weniger in andere Menschen hineindenken. Dennoch suchen sie nach Beziehung. Ein einfacher Weg ist der, einen gemeinsamen Feind auszumachen. Wenn die Bettnachbarin oder der Tischnachbar über eine Pflegekraft meckert und ich diesem Gemecker zustimmen kann oder möchte, ist der Anfang zu einem „gemein – sam“ gemacht. Von da aus kann man weitergehen – wieder zusammen essen, andere Pflegekräfte durchkauen, gemeinsam spazieren gehen und/oder das Feindbild weiter ausbauen.

Ein anderer Weg ist, die Aufmerksamkeit der Pflegenden zu bekommen, indem sie diese „nerven“, d. h. immer wieder klingeln, sich immer wieder über irgendetwas beschweren, die Pflegenden immer wieder in ein Gespräch verwickeln wollen, um sich mitzuteilen. Hinter allem steht gegebenenfalls der Wunsch, eine tragfähige Beziehung knüpfen zu können, um „Klatsch und Tratsch“ austauschen zu können, um der Einsamkeit zu entrinnen.

Ältere und hochaltrige Menschen, die nicht in einem Heim leben, gehen häufig zum Arzt; überall finden sich volle Wartezimmer, da der einsame Mensch hier eben diesen Klatsch und Tratsch findet, gegebenenfalls sogar Gleichgesinnte, zu denen sich eine Beziehung aufbauen lässt.
Beeinträchtigte und behinderte Kinder und Jugendliche haben im Regelfall ihre Peers, die sie im Kindergarten, in der Schule und auch in den Werkstätten treffen. Kommen aber die Ferienzeiten, müssen viele von ihnen auf ihre Freunde verzichten, denn die Betroffenen leben oft weit auseinander und haben nur Kindergarten/Schule/Werkstatt als gemeinsamen Ort des Treffes und der Teilhabe. Fällt dieser weg, kann Einsamkeit entstehen.

Eine PISA-Studie aus den Jahren 2012 – 2018 befragte in 36 Ländern alle Schüler zum Thema Einsamkeit. In 35 von 36 Ländern waren die Einsamkeitswerte hoch, Mädchen und Frauen waren eher betroffen als Jungen und Männer. „Vor allem in den letzten fünf Jahren hat das Gefühl der Einsamkeit in Deutschland signifikant zugenommen: Während von 2005 bis 2017 der Anteil der Einsamen im jungen und mittleren Erwachsenenalter recht stabil zwischen 14 und 17 Prozent lag, ist er mit Beginn der Coronapandemie im Jahr 2020 sprunghaft auf knapp 41 Prozent angestiegen, ein Jahr später sogar auf fast 47 Prozent. Nach aktuellen Messungen aus dem Winter 2022/2023 sank das Gefühl der Einsamkeit wieder auf 36 Prozent ab, liegt aber immer noch deutlich über dem Niveau vor der Pandemie.“

Ebenso kann es den Pflegenden gehen. Fühlen sie sich nicht im Team angekommen, sehen sie sich mit Mobbing oder Ausgrenzung konfrontiert, baut sich bald das Gefühl der Einsamkeit auf. Pflegende Angehörige stehen oft vor genau diesem Problem. Ihre Welt dreht sich häufig nur noch um den zu Pflegenden. Sie investieren Zeit und Kraft in die Pflege, die Organisation des Alltags, die Abarbeitung der bürokratischen Anforderungen. Ihre Teilhabe an der „anderen“ Welt ist deutlich eingeschränkt. Laut einer VdK-Studie fühlen sich 55,4% der Pflegenden mindestens 1x/Monat einsam, 22,9 % wöchentlich, 19 % täglich und 20% haben keinerlei Kontakte, außer zu der zu pflegenden Person.
Laut einer BARMER-Studie aus dem Jahr 2018 haben 39,2 % der pflegenden Angehörigen nur manchmal Zeit für soziale Beziehungen und 10,8 % nie. 20% haben keine Vertrauensperson im Umkreis und tragen die gesamte Pflegeverantwortung allein.

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Einsamkeitsempfindungen im gleichen Hirnareal verortet sind, wie die Schmerzempfindung. Unwohlsein, diffuse Schmerzen, Abgeschlagenheit können die Ursache vieler Krankschreibungen sein; hier (nur) nach körperlichen Ursachen zu suchen, könnte zu kurz gedacht sein; man sollte schauen, ob beispielsweise der Arbeitnehmer vielleicht in die Einsamkeitsfalle gerutscht ist oder zu rutschen droht. Alte und hochaltrige Menschen äußern ebenfalls häufig unklare Beschwerden und Schmerzen, die nicht unbedingt zu den gestellten Diagnosen passen. Hier ist immer ein Hinweis auf eine tiefgreifende Einsamkeitsempfindung gegeben.
Wichtig zu verstehen ist, dass nicht die Menge der Beziehungen ausschlaggebend für die Vermeidung von Einsamkeitsgefühlen ist, sondern die Qualität der Beziehung. Es geht um das, was der Schweizer Kinderarzt und Neurologe Remo Largo „umi“ nannte – räumlich und zeitlich „um etwas herum sein“. Weiß der Mensch, dass ein anderer immer (oder zumindest häufig) „um ihn herum“ ist, sei es gedanklich, sei es konkret zur Hilfe, sei es atmosphärisch, reicht das schon weithin. Wichtig ist zu wissen, dass der andere seine gedankliche und leibliche Welt bis zu mir ausstreckt.

Begünstigend für Einsamkeit können folgende Hinweise sein:

  • introvertierter Charakter
  • emotionale Instabilität
  • wenige persönliche Ressourcen – wenig finanzielle Mittel, wenige Verwandte/Bekannte/Freunde
  • Migrationshintergrund
  • gesundheitliche Einschränkungen – je stärker, desto höher das Risiko
  • herausforderndes Verhalten
  • Teil einer Minderheit sein (sexuell, ethnisch, religiös)
  • Schamempfindung (unglückliches Leben, schwierige Vergangenheit, „selbstverschuldetes“ Unglück, etc.)
  • Mix aus allem („Das Gesamte ist mehr als die Summe seiner Teile“)

Was tun gegen Einsamkeit?

Anamnese

Eine erste und immer förderliche Hilfe ist eine kommunikative Beziehung zwischen dem betroffenen Kind/Jugendlichen und einer „umi-Person“. Besteht schon ein Anlass zur Sorge, sollte ausführlich nachgefragt/beobachtet werden nach:

  • derzeitige Stimmung
  • Rückzug/Kontaktvermeidung
  • persönliches Gesundheitsempfinden
  • Schmerzen
  • Traurigkeit
  • fehlt etwas, das man „auffüllen“ könnte
  • gibt es Unterstützungsbedarf
  • bessert sich die Stimmung, nachdem Sozialkontakte eingerichtet werden konnten?

Handlungsempfehlungen/Therapie (Therapie bedeutet Begleitung):

  • Zuhören verstärken/einüben
  • Kommunikation fördern
  • regelmäßige fest geplante Kontakte (umi sein)
  • Zeit schenken
  • Konstanz in allen, der Bekämpfung der Einsamkeit dienenden Bemühungen
  • wenn erste Schritte gelingen, Einübung von dosiertem Im-Stich-Lassen

Dosiertes Im-Stich-Lassen ist die Umsetzung des vertrauensvollen Umgangs mit der Persönlichkeit des anderen. Erkennt der bislang einsame Mensch, dass Beziehungen ihm helfen, die Einsamkeit zu bekämpfen und beginnt er, Beziehungen zu anderen aufzubauen, zieht sich der bislang Unterstützende mehr und mehr zurück und greift nicht sofort ein, wenn sich Schwierigkeiten einstellen. Er vertraut auf die stärkenden Ressourcen des bisherigen „Schützlings“.

Schwierigkeiten

  • erlernte Hilflosigkeit
  • lange schon bestehender persönlicher Rückzug
  • Misstrauen

Sind Eltern oder Pflegende zu sehr um die zu pflegenden Kinder und Jugendlichen bemüht oder machen sie zu viel – nach dem Motto „mache ich lieber selbst, geht dann schneller“, entsteht erlernte Hilflosigkeit bei den zu Pflegenden. Diese Haltung verhindert die Erfahrung der Selbstwirksamkeit seitens der zu Pflegenden. Ist der Mensch zwar Einsamkeit gefährdet, aber noch nicht einsam, sollte alles dazu getan werden, seine noch vorhandenen Ressourcen zu stärken, um nicht einsam werden zu müssen.
Besteht der innerliche Rückzug eines Menschen schon einige Zeit oder hats sich als Lebenseinstellung verfestigt, sind Gespräche, die in Ruhe und mit Zeit geführt werden, ein Einstieg in eine mögliche Hilfe zur Aufweichung verkrusteter Gefühle und Weltsichten.

Fazit

Menschen in Pflegeheimen betreten einen neuen und meist den letzten Abschnitt ihres Lebens. Sie fühlen sich oft gendemütigt – das Wort beinhaltet den Sinn von „Bescheidenheit und Bereitschaft zum Dienen“ – sie geben ihr selbstbestimmtes Leben weitgehend auf. Sie sind in ihren „normalen“ Gemütsverfassung geschwächt, suchen nach neuen Orientierungen und Beziehungen. Sie sind entwurzelt und brauchen unbedingt neue Fixpunkte, auf die sie ihr Leben ausrichten können. Im Regelfall sind das die Mitarbeiter des Heims, in dem sie nun wohnen.

Im Idealfall fühlen sie sich wohl in ihrer Arbeitsstätte, sehen ihren Beruf als Berufung, sind empathisch, geduldig und versuchen alles, den Neuankömmlingen ihre Eingewöhnung und das weitere Leben zu erleichtern. Wichtig aber sind auch die Mitarbeiter des Sozialen Dienst. Sie führen das Biographie-Gespräch, sie können weiterhin ein Auge auf die Qualität der Eingewöhnung des Neueinzugs werfen. Sie können, wenn sie geschult sind, Symptome der Einsamkeit erkennen und frühzeitig gegen diese anarbeiten.
Wenn wir wollen, dass Seniorenpflegeheime auf Dauer eine akzeptable und durchaus angenehme Art sein sollen, die letzten Kapitel des jeweiligen Lebens zu gestalten, so sollte alles daran gesetzte werden, die Bewohner:Innen vor Einsamkeit zu schützen.

Kinder und Jugendliche haben „das Leben noch vor sich“ – wie eine Plattitüde besagt. Dennoch liegt viel Wahrheit in den Worten, denn das Leben eines Kindes und Jugendlichen ist die Zeit des Lernens für die Zukunft. Erlebt diese junge Bevölkerungsgruppe (die „Niedrigalten“) in dieser Zeit häufiger Einsamkeitsgefühle, lehrt sie das, dass sie anders als die anderen sind, was wiederum mit einem verstärkten Rückzug aus der Peer-Gesellschaft quittiert wird. Die verstörenden Meldungen aus den Medien, dass sich Kinder und Jugendliche töten, wenn sie aus Internetforen und Communities ausgeschlossen werden, belegen diese Tatsache drastisch.
Behinderte und chronisch kranke Kinder und Jugendliche sind noch vulnerabler als gesunde Kinder und Jugendliche. Dementsprechend sind sie noch gefährdeter für schädigende Einflüsse, wie Einsamkeit es sein kann.

In Zeiten von Internet und Smartphones, Pflegecomputern und KI, hoher Teuerungsrate und Ressourcen- und Personalmangel an allen Ecken und Enden der Gesellschaft, ist die Gefahr groß, dass die zwischenmenschlichen Bedürfnisse nach Geborgenheit und Verständnis mehr und mehr schwinden und das Gespräch, das Zuhören und das empathische Umi-Sein werden wichtiger denn je.

Tipp

Das schöne Lied „Miteinander“ der Band „Zupfgeigenhansel“ aus dem Jahr 1982 fasst alle diese Inhalte leicht und locker zusammen:

Zupfgeigenhansel – Miteinander (Live bei „Nacht der Lieder“ 1982 – 4/6) (youtube.com)

Quellen

[1] Pressemeldung des deutschen Ethikrats: Einsamkeit als mehrdimensionales Phänomen; 19.06.2024

[1] https://www.liebenswert-magazin.de/90-jaehriger-gibt-tipps-gegen-einsamkeit-im-alter-1008.html; 20.07.2024

[1]Persönliches Interview: 94-jährige Frau in einem Heim lebend; Januar 2024

[1] Zu finden unter https://www.liebenswert-magazin.de/90-jaehriger-gibt-tipps-gegen-einsamkeit-im-alter-1008.html, „Brief alter Frau“; 20.07.2024

[1] Luhmann, Maike (2022): Definition und Form der Einsamkeit. KNE Expertise 1/2022. Kompetenznetz EINSAMKEIT

[1] Wie einsam sind junge Erwachsene im Jahr 2024? (bertelsmann-stiftung.de); 17.06.2024

[1] A.a.O.; 17.07.2024

[1] https://www.dwds.de/wb/Bed%C3%BCrfnis; 16.07.2024

[1] https://www.fr.de/panorama/mensch-soziales-tier-13778291.html#:~:text=%E2%80%9EDer%20Mensch%20ist%20ein%20soziales%20Tier%20und%20hat%20das%20Bed%C3%BCrfnis,Arbeitspsychologie%20und%20Arbeitsmedizin%20in%20Herdecke 16.07.2024

[1] https://www.dasgehirn.info/handeln/liebe-und-triebe/liebe-ein-grundnahrungsmittel; 16.07.2024

[1] Wie einsam sind junge Erwachsene im Jahr 2024? (bertelsmann-stiftung.de); 17.07.2024

[1] Einsamkeit im jungen und mittleren Erwachsenenalter hat zugenommen – besonders unter jungen Menschen (praeventionstag.de); 17.07.2024

[1] Diese und andere, nachfolgende Studien gefunden in: Regionalbüros Alter, Pflege und Demenz  Einsamkeit begegnen – Zugehörigkeit stärken. Hilfreiche Informationen für die Bereiche Alter, Pflege und Demenz.

[1] https://www.freiburger-nachrichten.ch/ummi-und-schommi/; 16.07.2024

[1] https://www.dwds.de/wb/dem%C3%BCtigen; 16.07.2024

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Zuletzt Aktualisiert am: 27.08.2024

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